Ein Praktikum in Bangladesch

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Allgemein International
Der internationale Frauentag wurde für eine Demo in der Fabrik genutzt. Foto © Maike Vierkötter

Spätestens seit Beginn meines Studiums im Fachbereich Textil und Bekleidungstechnik an der Hochschule Niederrhein lässt mich der Gedanke „Wo kommt unsere Kleidung her?“ nicht mehr los. Im Studienalltag findet diese Frage wenig Antworten. Wir kennen technische Details von Textilmaschinen, wissen wie ein Schnitt konstruiert wird und auch mit der Nähmaschine sind wir vertraut. Doch die aktuelle Situation in den Produktionsländern zu hinterfragen steht nicht auf dem Lehrplan. Hier setzt die Hochschule auf Eigeninitiative! Ein Bericht von Maike Vierkötter.

Es gibt diese eine Möglichkeit: ein Praktikum in einer Textilfabrik in Bangladesch. Da will ich hin und schnell ist die Bewerbung geschrieben. Mit vielen Fragen im Gepäck startet im Februar 2018 für sieben weitere Praktikantinnen und mich der Flieger Richtung Dhaka.

Sind die Arbeitsbedingungen wirklich so katastrophal wie man in den Medien hört? Haben die Menschen vor Ort kein Bewusstsein für Umweltschutz oder fehlen die Möglichkeiten? Beuten Industrienationen die Menschen und die Umwelt aus oder sind sie auch wertvolle Arbeitgeber? Was denken die Einheimischen über Fast Fashion? Sind die Menschen glücklich? Ich möchte mir einen eigenen Eindruck verschaffen. Das Land mit allen Sinnen wahrnehmen: riechen, schmecken, hören, fühlen, sehen. Ich bin gespannt auf ein Land, von dem ich erstaunlich wenig weiß – wie ich bemerkte als ich den Reiseführer durchblätterte.

Dhaka. Foto © Maike Vierkötter

Dhaka. Foto © Maike Vierkötter

Das Praktikum fand in der Firma Viyellatex statt. Die Firma besitzt mehrere verschiedene Fabriken. Während der ersten Woche erhielten wir einen guten Überblick über die Vielseitigkeit des Unternehmens. Wir besuchten die Spinnerei und zwei moderne Fabriken, in denen Arbeitsschritte von der Schnittkonstruktion über den Zuschnitt bis hin zur Konfektionierung stattfinden und lernten alle Prozessschritte kennen, die an unserem Standort ausgeübt werden. Es war beeindruckend zu sehen, dass hier von der Strickerei, Färberei, Konfektionierung bis zur Herstellung der Verpackungsmaterialen alles unter einem Dach abläuft. Auf diese Weise können Transportwege gespart und die Produkte zu einem noch niedrigeren Preis angeboten werden.

Zur Fabrik gehören auch ein Kindergarten und eine Schule, sowie eine Art Arztpraxis. Auch eine Kläranlage entdeckten wir auf dem Fabrikgelände. Im ersten Moment war ich positiv überrascht, wie fortschrittlich die Fabrik scheint. Doch nach einigen Nachfragen stellte sich heraus, dass die Schule nur eine begrenzte Anzahl von Kindern beherbergen kann. Im Kindergarten haben wir auch nie mehr als zehn Kinder entdeckt; dabei arbeiten mehrere hundert Frauen in der Fabrik. Häufig müssen Kinder in Bangladesch auch arbeiten gehen oder sie sind in den ländlicheren Gegenden von Bangladesch zuhause. Die Arztpraxis ist für dringende Notfälle eingerichtet, auch eine Diagnose stellt der Arzt. Doch weitere Behandlungskosten müssen eigenständig von den ArbeiterInnen finanziert werden. Diese Kosten sind für die Meisten nicht tragbar und somit ist auch keine weitere Behandlung möglich.

Bei der Kläranlage stellte sich nach einigen Nachfragen heraus, dass maximal 10 Prozent des Abwassers aufbereitet und für die Toilettenspülung verwendet werden. „Immerhin“ denke ich! Wohin die restlichen 90 Prozent laufen, konnte uns jedoch leider niemand so genau sagen. Unsere Betreuer in der Fabrik konnten uns jedoch viele andere Fragen rund um die Strukturen der Viyellatex Group beantworten. Sie berichteten von den regulären Arbeitszeiten der ArbeiterInnen, die maximal 10 Stunden betragen würden. Alle weiteren Stunden würden mit einem Überstundenzuschlag vergütet. Die ArbeiterInnen loggen sich jeden Morgen mit einer Karte ein und werden ab diesem Zeitpunkt bezahlt. Da wir immer nur acht bis neun Stunden in der Fabrik waren, konnten wir schwer abschätzen, ob die ArbeiterInnen wirklich „nur“ zehn Stunden arbeiten. In der Firma werde der Mindestlohn von ca. 54 Euro im Monat bezahlt und auf ein Konto eingezahlt, auf das man mit einem Smartphone zugreifen könne. Wir zweifelten an, ob die Frauen ihr Gehalt selbst verwalten oder nur ihre Ehemänner auf das Konto zugreifen können. Eine Antwort erhielten wir diesbezüglich nicht. Der Stundenlohn stellte sich jedoch als viel zu gering heraus, denn das Geld reicht nicht zum Leben in Bangladesch. Viele ArbeiterInnen kommen nicht aus Dhaka und sind auf eine Unterkunft angewiesen. Ungefähr die Hälfte des Einkommens fließt demnach in die Miete. Zudem senden sie einen Teil des Geldes an ihre Familien, die häufig in den kilometerweit entfernten Dörfern leben.

Nach den ersten Eindrücken durften wir uns ein Department aussuchen, in dem wir einen vertieften Einblick bekommen wollten. Ich suchte mir die Strickerei aus. Ich war überwältigt, als ich das erste Mal in die Halle kam. 90 Rundstrickmaschinen stricken hier 24 Stunden am Tag. Überall liefen Menschen umher und schleppten riesige Stoffballen. Tagtäglich herrschte ein dröhnender Lärm. Hier sollte ich also die nächsten drei Wochen verbringen. Ich war aufgeregt und glücklich, als ich die Treppe zum Büro hinaufstieg. Der Chef der Strickerei begrüßte mich. Mr. Onkar arbeitet schon seit vielen Jahren in der Textilindustrie. In späteren Gesprächen erfuhr ich, dass er zuletzt im Süden Bangladeschs tätig war und seine Heimat in Indien liegt. Er wirkte traurig als er von seiner Familie sprach, die immer noch in Indien lebt. Diese Geschichten hörte ich während meiner Zeit in der Fabrik häufiger. Viele verlassen ihre Familien für die Arbeit und senden das Geld nach Hause. Man merkte allen an, wie sehr sie ihre Familien und Freunde vermissen. Mr. Onkar ist erst seit vier Monaten bei Viyellatex. Viel länger bleiben die meisten Mitarbeiter wohl auch nicht. Alle die wir kennenlernten sind höchstens seit zwei Jahren in der Firma beschäftigt. Die hohe Fluktuation spricht meiner Meinung nach nicht für die Firma. Allerdings wechseln die Menschen in Bangladesch ihren Arbeitgeber auch für wenige Taka mehr im Monat. Die Not ist groß.

Handwerkliches Arbeiten in der Strickerei. Foto © Maike Vierkötter

Handwerkliches Arbeiten in der Strickerei. Foto © Maike Vierkötter

In der Strickerei arbeiten ausschließlich Männer. Ich war während der gesamten Zeit die einzige Frau. Vermutlich liegt es daran, dass Stricken ein sehr technisches Arbeitsfeld ist und Maschinenbau und Textiltechnik als klassische Männerberufe in Bangladesch angesehen werden. Auch wenn es für mich ein seltsames Bild ergab, dass nur Männer in der Halle arbeiten, ist die Atmosphäre entspannt. Das Team von Mr. Onkar sollte mir während des Praktikums die wichtigsten Aspekte der Strickerei erklären. Die Männer, die nicht viel älter sind als ich, gaben sich sehr viel Mühe. Ich musste sogar Hausaufgaben machen und das Gelernte aufbereiten. Mr. Onkar hatte sich zum Ziel gesetzt, mich zum „Master“ zu machen. So hatte ich mir das Praktikum nicht vorgestellt und war positiv überrascht! Alle nahmen sich Zeit für mich und versuchten mir mit Händen und Füßen alles verständlich zu erklären, da das Englisch oft nicht ausreichte. Ich war – bzw. bin – immer noch begeistert.

Mein schönstes Erlebnis war, als ich mit Lalim, dem Maschinen-Meister, eine Jacquardmaschine einrichten und mit meinen eigenen Händen die Maschinenelemente zusammenbauen durfte. Mit Pinzette, Schraubenzieher und einer ruhigen Hand zeigte mir Lalim die einzelnen Schritte. Und dann war ich an der Reihe. Es machte mir große Freude und die Männer staunten nicht schlecht, als ich in kurzer Zeit sämtliche Maschinenteile zusammengeschraubt hatte. Im Anschluss durfte ich noch die Maschine einfädeln, was sich als viel kniffliger herausstellte, als ich zunächst annahm.

Was ich während der gesamten Zeit, aber auch gerade bei der Arbeit an der Maschine feststellte war, dass die Männer es kaum glauben konnten, dass man als Frau ebenfalls ein technisches Verständnis haben kann. Außerdem brauchte es einiges an Überzeugungskraft, bis ich überhaupt mitmachen durfte. Die Männer im Büro verstanden nicht, dass ich – eine weiße studierte Frau – unbedingt mit meinen Händen arbeiten wollte. Mich erschreckte es, welches Bild sie von uns haben. Sie konnten auch nicht nachvollziehen, dass ich neben meinem Studium arbeite. Wenn man studiere, müsse man nicht arbeiten. Das hörte ich immer wieder.

In einer anderen Niederlassung von Viyellatex ist eine Frau für das Personal zuständig. Am internationalen Frauentag nutzte sie die Gelegenheit, eine kleine Demonstration zu initiieren (siehe Titelfoto). Gewappnet mit Megaphon und Banner gingen wir durch die Fabrik und kämpften gemeinsam für Gleichberechtigung – der entschlossene Wille, etwas gegen die herrschenden Ungerechtigkeiten zu tun war deutlich spürbar!

Maschinenpark in der Fabrik Viyellatex. Foto © Maike Vierkötter

Maschinenpark in der Fabrik Viyellatex. Foto © Maike Vierkötter

Die Tage in der Fabrik waren anstrengend für uns, obwohl wir, im Vergleich zu den ArbeiterInnen, die Luxusversion des „Arbeitstages“ erlebten. Es zeigte uns aber deutlich, wie hart die Arbeit in der Fabrik sein muss. Da wir im Zentrum von Dhaka eine Unterkunft hatten, verbrachten wir jeden Tag drei bis vier Stunden im Auto für Hin- und Rückfahrt. Dem „Traffic-Jam“ verschuldet, brauchten wir für acht Kilometer ca. zwei Stunden. Selbst nach vier Wochen konnte ich mich nicht an die Autofahrt gewöhnen. Mir war übel, ich hatte Kopfschmerzen, dabei saßen wir in einem klimatisierten Auto mit ausreichend Platz für Jeden. Die MitarbeiterInnen der Fabrik nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Busse sind überfüllt und von allen Seiten verbeult. Auf jeder Fahrt sahen wir Menschen, die sich aus dem Bus übergeben mussten. Zudem ist es sehr gefährlich im Straßenverkehr. Rund 500 Verkehrstote verzeichnet die Stadt wöchentlich. Es gibt nur eine einzige Regel auf den Straßen Bangladeschs: das größte Fahrzeug hat Vorfahrt. Ansonsten heißt es: hupen, hupen, hupen. Ich war jeden Tag glücklich, wenn wir ohne Unfall wieder am Ziel ankamen.

Wir wurden jeden Morgen mit Kaffee und Tee in der Fabrik versorgt und gingen dann für zwei Stunden in unsere Departments. Um 12 Uhr gab es für alle eine Pause von einer Stunde. Alle ArbeiterInnen brachten sich etwas zu Essen von Zuhause mit oder kauften sich etwas an einem der unzähligen Straßenstände. Wir Praktikantinnen wurden in der Kantine verpflegt. Dort speiste nur das Management. Wir fühlten uns mit unserer Sonderstellung nicht besonders wohl, mochten aber auch nicht unhöflich sein und die Einladung ablehnen. Diesen Zwiespalt hatten wir während der Zeit in Bangladesch immer wieder. Nach der Mittagpause verschwanden wir zurück in unsere Departments und wurden gegen 17 Uhr abgeholt. Die Rückfahrt war oft sehr lang. Wir kauften noch schnell ein paar Lebensmittel ein, kochten ein Abendessen, stellten eine Maschine Wäsche an und fielen dann müde ins Bett. In Bangladesch wird sechs Tage die Woche gearbeitet, der Freitag ist frei. Diesen Rhythmus machten auch wir mit. Es war anstrengend, nur einen Tag in der Woche frei zu haben. Natürlich nutzen wir unseren freien Tag für Ausflüge und Sightseeing und versuchten das Leben in diesem Land zu erleben.

In der Firma Viyellatex: Strickerei, Färberei und Konfektionierung alles unter einem Dach. Foto © Maike Vierkötter

In der Firma Viyellatex: Strickerei, Färberei und Konfektionierung alles unter einem Dach. Foto © Maike Vierkötter

Unsere Betreuer erklärten uns, wenn die Fabrik die Löhne erhöhen und in den Umweltschutz investieren würde, wären sie nicht mehr konkurrenzfähig und die EinkäuferInnen der großen Firmen würden sich neue ProduzentInnen suchen. Damit sei niemandem geholfen. Eine Hilfe bietet „Better Work“. Mit einem Punktesystem werden die Fabriken bewertet. In öffentlichen Listen können EinkäuferInnen sich über die Bedingungen in der Fabrik informieren. Zusätzlich entsteht ein Wettbewerb zwischen den ProduzentInnen, eine hohe Punktzahl zu erreichen. Viyellatex gehört zu den besseren Fabriken in Dhaka. Eine volle Punktzahl können sie allerdings noch nicht vorweisen, da ihnen zum Beispiel ein zweiter Notausgang auf dem Gelände fehlt. Jedoch fand während unserer Zeit bei Viyellatex ein Workshop statt. Hier wurde das Management geschult und über Arbeitsrechte aufgeklärt. Hier wird deutlich: wenn der internationale Druck steigt, werden die Firmen etwas an ihren Strukturen ändern müssen – und zwar alle gleichermaßen.

Die Zeit in Bangladesch war eine Bereicherung. Während der vier Wochen konnte ich wertvolle Erkenntnisse über die Kultur, die Menschen und deren Gewohnheiten lernen. Es ist traurig zu sehen, in welcher Armut die Menschen leben und es ist erschütternd, wie die reichen Länder dieser Welt diese Armut ausnutzen. Mir persönlich haben diese Erfahrungen gezeigt, wie wichtig es ist, für die Menschen in den Produktionsländern aufzustehen, um in dieser riesigen Industrie etwas zu verändern. Wir als KonsumentInnen haben mit unserer Kaufkraft die größte Macht etwas in der Bekleidungsindustrie zu bewegen! Wenn wir keinen Druck auf die riesigen Bekleidungsunternehmen ausüben, werden diese keinen Grund haben, etwas zu verändern. Ein motivierendes und schönes Gefühl – wir sind nicht machtlos in dieser Industrie!

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